Norbert Kunz: Von der Notwendigkeit der Ziellosigkeit

Artikel Norbert Kunz

Hinweis: Dies ist einer von insgesamt zehn inspirierenden Gastartikeln aus Ein gutes Ziel. Danke dir Norbert, für deinen schönen Artikel!

VON DER NOTWENDIGKEIT DER ZIELLOSIGKEIT

Von Norbert Kunz

Eins ist klar: Wenn ich gefragt werde, ob ich Prosaisches für ein Taschenbuch. schreiben könnte, habe ich mein Ziel erreicht. Nein, eigentlich bin ich darüber hin aus geschossen. Dieses Ziel habe ich mir nie gestellt.

Das ich mich trotzdem dieser Frage stelle, habt Ihr Ernst zu verdanken.

Ein Ziel bezeichnet einen erstrebenswerten Zustand, der in der Zukunft liegt. Es ist die Ausrichtung oder der Endpunkt einer Bestrebung. Letztendlich basiert die Zielsetzung auf dem Empfinden eines Mangels in der Gegenwart und dem Drang danach, diesen Mangel zu beheben. Woher dieser Mangel resultiert, ob aus einem authentischen inneren Drang heraus, aus ideologischen Denkmustern oder weil die Werbeindustrie überzeugend darlegen konnte, was den Menschen glücklich macht, ist hier unerheblich.

Ob es sich lohnt, seine Kraft und Energie auf einen Sollzustand auszurichten, kann nur jede*r für sich selbst entscheiden, und auch die Wertung, ob mit der Zielerreichung der Mangel behoben ist, liegt im Auge der Betracher*innen.

Es scheint so selbstverständlich, dass wir uns Ziele setzen (müssen). Es ist ein ideologisches Grundmuster, dem wir folgen: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer sich keine Ziele setzt, weiß auch nicht, wo es langgeht, aus dem*der wird im Leben nichts. Dieses Paradigma passt wunderbar in unser Weltbild. Jede*r ist für sich selbst verantwortlich und wer es nicht schafft, ist selbst dran schuld.

Wesentliche Fragen bleiben dabei unbeantwortet: Wie viele Dinge im Leben lassen sich wirklich beeinflussen? In welches Land, in welche Familie bin ich hineingeboren? Welche Bildungsmöglichkeiten hatte ich, welche Unterstützung wurde mir angeboten? Welche Beziehungen konnte ich nutzen? Wie viel davon liegt in meiner eigenen Verantwortung und was kann ich wirklich beeinflussen? Vieles, was unser Leben prägt, liegt außerhalb unserer Kontrolle. Es ist eben nicht so, dass jede*r alles erreichen könnte, wenn er*sie nur wollte. Es ist ungerecht, Menschen für alles verantwortlich zu machen, was ihnen widerfährt.

Ich hatte Glück. Auch wenn ich in einer Familie aufgewachsen bin, die mich nicht mit einem goldenen Handschlag ins Leben entlassen konnte. Aber die Rahmenbedingungen waren günstig. Das Bildungssystem war für ein paar Jahre durchlässig. Man wollte jungen Menschen aus bildungsferneren Schichten den Zugang zum Gymnasium und zum Studium ermöglichen.

Auf dieser Welle konnte ich surfen und einen Lebens- und Karriereweg einschlagen, den ich mir als Jugendlicher – aus einem Bauerndorf kommend – noch nicht einmal vorstellen, geschweige denn als Ziel setzen konnte.

In der Tat war eher der Weg das Ziel. Aber auf diesem Weg habe ich mir immer wieder Etappenziele gesetzt. Ich war dann darauf fixiert, bis zur nächsten Etappe alles richtig zu machen, gut zu planen, kontrolliert zu agieren, um am Ende erfolgreich zu sein. Es hat mal funktioniert und auch manchmal nicht. Und dann fragt man sich, warum hat es diesmal nicht funktioniert.

Das Leben ist, wie es ist. Es lässt sich nicht alles vorhersehen und planen, wir können auch nicht alles kontrollieren. Es ist nicht normal, nur Erfolg zu haben und alle Ziele zu erreichen. Für mich persönlich wäre es ein gutes Ziel, kein Ziel mehr zu haben. Dann entspräche der Ist-Zustand dem Soll-Zustand.

Aber es gilt auch grundsätzlich zu fragen, ob diejenigen, die ihre selbst gesetzten Ziele erreicht haben, erfolgreich waren. Wenn es denn so wäre, müssten wir dann nicht nach so vielen Erfolgen längst den Zustand erreicht haben, der uns alle zufrieden macht? Aber vielleicht macht uns die Zielerreichung auch gar nicht glücklich und zufrieden, und wir stellen fest, dass sich all die Mühen nicht gelohnt haben. Vielleicht sind es doch nicht das Haus, das Auto, das Boot, die den persönlichen Erfolg im Leben ausmachen. Statt aber darüber nachzudenken, warum und wieso wir unsere Lebenszeit der Jagd nach dem Mammon opfern, stellen wir uns neu auf für die Jagd nach dem Größeren, Schöneren und Teurerem. Oder wie Heiner Müller sagt: „Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.“

Die Wirtschaft ist uns Privatmenschen deutlich voraus. Sie überlässt die Bewertung des Erfolges nicht mehr den subjektiven Einschätzungen des*der Betrachter*in. Sie hat KPI – Key Performance Indicators – eingeführt. Diese Kennzahlen bilden den Erfolg oder Misserfolg unternehmerischen Handelns ab. In diesen Kennzahlen wird jegliche Qualität unternehmerischer Leistung auf Quantitäten reduziert. Sie sagen nichts darüber aus, ob Kriegswaffen produziert oder Gesundheitsdienstleistungen erbracht werden. Sie sagen nichts darüber aus, wie viel Natur zerstört, Kinder zur Arbeit gezwungen oder Menschen ausgebeutet werden.

Der Erfolg des Managements und die Zielerreichung misst sich daran, ob es ordentlich performt – auch wenn die Welt daran zugrunde geht.

So profan es klingt: Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was mir wirklich, wirklich wichtig ist, und sich bewusst zu entscheiden, für welche Ziele ich meine Lebensenergie verwende.

Über den Autor

Norbert Kunz  gehört zu den profiliertesten Sozialunternehmern in Deutschland. Seit über zwanzig Jahren berät und unterstützt er Existenzgründer  und hat als Mitbegründer verschiedener Organisationen maßgeblich an der Entwicklung sozialer Innovationen mitgewirkt. Norbert Kunz ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Social Impact GmbH (socialimpact.eu) und wurde vielfach für sein Engagement ausgezeichnet. Seit 2015 ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes. 
Norbert Kunz Gastautor von Ein gutes Ziel

 

 


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